Montag, 30. September 2013
Ich werde dich in meiner Hand schlafen lassen, schrieb er ihr. Sie saß lautlos vor dem Bildschirm, ein Bein hochgezogen und das Knie an die Tischkante gelehnt. Von der Straße drang ein leises ununterbrochenes Rauschen zu ihr hoch. Die Bilder hatten sich mit jedem neuen Satz verschoben, so dass sie gegen Ende gemeinsam auf einer Veranda saßen. Irgendwo im Umland von Berlin. Ihr schlafender Kopf in seiner Hand. Wie ein Kissen, schrieb er ergänzend. Jedes Wort, welches er schrieb, war eine Neuentdeckung. Jeder Moment füllte sich mit unbesehenem Filmmaterial. Behutsam überzog er die Innenflächen mit dem Wunsch nach Ruhe. Wenn er abends alleine zu Hause saß, schaltete er häufig den Fernseher an und schaute ausländische Sender, in denen fremde Landschaften zu sehen waren. Das beglückte ihn. Auf den Photos stand er in seinem kleinen Garten, von der Sonne beschienen und der Welt entrückt.

Bagdad sei eine traurige Stadt, schrieb er. Er vermied es, das Grauen näher zu benennen. Sie sah einen alten Soldatenhelm vor sich, in dem sich Brackwasser gesammelt hatte. Der salzige Soldatenschweiß hatte sich mit Regenwasser vermischt. Der Helm lag an einer Straßenecke, helles Gestein einer Hausmauer und die Einschusslöcher an der Wand vermittelten Unruhe. Umgestürzte, beschädigte Statuen in der Stadt, versteckte Statuen in Kellern. Die Kunst der Diktatur war von den Straßen entfernt worden und in der Stadt herrschte danach eine seltsame Leere. Die anhaltenden Unruhen ließen es aber nicht zu, dass etwas neues entstand, so wie das damals in Berlin der Fall war. "Es liegt ein Grauschleier über der Stadt, den meine Mutter noch nicht weggewaschen hat" (Monarchie und Alltag, Fehlfarben)

Seine Gefühle gegenüber Bagdad hatten sich nach dem Krieg verändert. Es ist eine traurige Stadt geworden, wiederholte er und sie schaut nicht mehr so aus wie früher. Sie legte ihren Kopf in seine Hand. Alles um sie herum wurde friedlich. Die Sperrstunde verwandelte Bagdad allnächtlich in eine Geisterstadt. Davon war hier nichts zu spüren. Sie saßen am späten Abend in seinem Garten und lauschten den Zikaden. Galerien gäbe es auch nicht mehr besonders viele, erzählte er. Sie versuchte ihn zu heilen, ein wenig, erzählte von den Seen im Berliner Umland, von den kleinen Dörfern, wo inzwischen viele Künstler wohnen. Und das Wasser ist ohne Salz, ja, es ist nicht salzig. Sie lachten einander zu und tranken kalte Cola.

Es gab keine Leichen, keine verstümmelten Menschen und keine Armut in diesem kleinen Garten. Er besuchte regelmäßig die Universität und wollte bald sein Studium der Innenarchitektur beenden. Zwei von ihm angefertige Skulpturen standen neben einem kleinen Schuppen und warteten darauf, in die Stadt gebracht zu werden. Eine der Skulpturen war ein Kinderkörper, der einen Helm trug und dessen Arme mittels zwei Leuchtern gestaltet waren. Den Körper hatte er aus Ornamenten geformt, die er in Schutthaufen zerbombter Häuser gefunden hatte. Die dem inne wohnende Traurigkeit überbot die Skurilität. Die andere Skulptur war ein Frauenkörper, sanft verhüllt und die Geschlechtsmerkmale waren nur zart angedeutet. “Ich stelle mir vor, eines Tages mit dir an einem See zu sitzen und die Sonne scheint auf das Gras. Gefällt dir das?” “Ja”, sie nickte nachdenklich. Sie war hier zu Gast, in seinem Garten, aber doch weit entfernt. Sie sprach gern mit ihm und es fiel ihr alles so leicht, wenn er anwesend war. Sie fürchtete um ihr Seelenheil, denn der Garten war nur ihr gemeinsames Konstrukt, auch wenn sie jeden Abend dort saßen und redeten. Er suchte nach seiner zweiten Hälfte für den Rest seines Lebens.

Eines Abends, sie hatte zuviel Wein getrunken, begann sie ihn zu provozieren und die Idylle in Frage zu stellen. “Warum all diese Gärten, Kuppeln und Harmlosigkeiten? Verdammt! Ihr hattet gerade einen bestialischen Krieg hinter euch. Warum ist euch nicht danach zu schreien?”, schrieb sie wütend in das leere Textfeld. Es blieb eine Weile lang still. Sie befürchtete, ihn verloren zu haben. Minuten später schrieb er: “Wir sind zu erschöpft.”. Er erwartete nicht von ihr, dass sie ihn verstand. Es gibt keinen Krieg ohne Zensur und die aktuelle Lage gebot es, Stillschweigen zu bewahren. “Wir sind doch keine Leichenmaler.”, flüsterte er leise zornig, die Worte für sich behaltend. Er stand auf und vor dem Schein des Rechners sah er, wie seine Hände zitterten. Er ging zum Fenster und schaute in das Dunkel des leeren Gartens hinein. Er hatte gerne mit ihr geredet, weil sie eine gute Zuhörerin war. Er ging in den Garten zu dem kleinen Schuppen und stieß die Skulptur des Kriegskindes um. Die Leuchter verfingen sich in einem Strauch und die Ästchen federten sanft das Kunstwerk ab. Der Schrei kam aus seinem Innersten. Er hatte ihn nicht geplant, aber plötzlich war er da. In die darauf folgende Stille hinein raschelte es und das Kriegskind sank nun vollständig auf die Erde.

Ahmed war in jeder Hinsicht ein unkomplizierter Mann, der das Ruhige und die Natur liebte. Die Menschen sollten ehrlich und freundlich zu ihm sein. Ihm war daran gelegen, was andere dachten und fühlten. Er hatte Anne in seine inneren Kreise gelassen und sie durfte an seinen Gefühlen, seinem Leben teilhaben. Er wollte gerne reisen, die Welt außerhalb des Gartens und der nächtlichen Sperrstunden erkunden. Freunde von ihm waren nach London gegangen und einer von ihnen stellte seine Bilder in einer kleinen Galerie aus. Die Galerien in Bagdad hatten nicht nur geschlossen, weil keine neue Kunst nachkam, sondern auch, weil vieles Vorhandene dem Krieg zum Opfer gefallen war. Ein Großteil der Gemälde des Museum of Modern Art Bagdad war entweder verbrannt, beschädigt oder gestohlen worden. Eine leer geplünderte Stadt. Das war Bagdad.

Kunst ist ein Glücksfall. Du kannst zeigen, was du hast, wer du bist und was du fühlst, hatte er Anne einmal geschrieben. Man muss aber auch die Chance dazu bekommen. Nach ihrem Streit hatten Anne und er nur noch sporadisch miteinander geschrieben. Auf dem Markt hatte er sich eine Reisetasche besorgt, um zu schauen, wieviel in so eine Tasche passen würde. Anne und Ahmed. Er biss sich auf die Lippen. Wenn er gehen würde, käme er so schnell nicht wieder. Es gab niemanden, dem er ein Versprechen geben müsste. Doch zunächst blieb er. Studierte, pflegte den Garten, überlegte sich eine neue Skulptur und blendete allabendlich vor dem Fernseher den Grauschleier der Stadt aus.

Bagdad ist jetzt ohne Seele. Viele Menschen wurden getötet und es ist nicht mehr sicher. Wenn ich hier traurig bin oder einsam, weiß ich nicht, was ich tun soll. Dann schaue ich Fernsehen und sehe die Natur an anderen Orten der Welt. Das macht mich glücklich. Die Ruhe und die Natur. Um Berlin herum sind viele Seen. Jeder fährt an einen See im Sommer. Das klingt schön. Ich war noch nie an einem See und stelle es mir gerade vor, wie wir dort zusammen sitzen. Kannst du die Eule hören?

Ich werde Photos von dir machen. Ich werde es lieben. Ich auch. Ich werde dich in meiner Hand schlafen lassen. Und das Kind schläft im Schatten auf der Veranda. Das wäre wunderschön. Friedvoll. Ja friedvoll. Ich vermisse den Frieden so sehr. Ich möchte dir allen Frieden der Welt schenken. Ich möchte, dass deine Welt friedvoll ist. Ich möchte dich glücklich sehen. Ich werde dich malen. Nackt? Was immer du möchtest. Mein Gesicht, du musst mein Gesicht malen! Ich mache auch eine Skulptur von dir.
Wenn wir am See sind, werden wir die Sonne auf dem Antlitz des anderen sehen.

Anne zog das Knie von der Tischkante. Sie glitt mit der Hand über den roten Abdruck und wartete auf eine Antwort. Zunächst nur einige Minuten. Dann ging sie zum Fenster und starrte gedankenverloren den Autos hinterher. Ahmed saß eingehüllt in die Dunkelheit vor seinem schwarzen Rechner. Vermutlich würde er ihr heute nicht mehr schreiben können. Der Strom war ausgefallen und wenn es um diese Zeit passierte, blieb er meist bis zum nächsten Morgen aus. Anne wartete nicht mehr bis zum nächsten Abend sondern löschte ihren Account und ging schlafen.



Mittwoch, 21. August 2013
Sie nannten mich Blümchen, vermutlich weil ich die Jüngste war. Zu meinem 16. Geburtstag kamen sie in der Mittagspause auf den Schulhof und schenkten Blümchen zwei kleine Topfpflänzchen. Wir trugen gebrauchte Lederjacken und hingen am Wochenende meist im Prenzlauer Berg oder in Mitte rum, obwohl wir eigentlich aus Marzahn kamen, was uns aber niemand ansah. Wenn wir mit der Straßenbahn in die Stadt fuhren, saßen wir auf dem Schoß unserer Liebsten, redeten laut, meist angetrunken und bekifft über Musik und Literatur. Im Café Westphal spielten wir Schach und in der Schönhauser Fünf beschlugen im Winter unsere Brillen. In der Schönhauser Fünf stand ein Trabbi in der zweiten Etage und es gab Ausschank und irre viele betrunkene Menschen. Laute Musik. Punk vermutlich. Vermutlich machten Suff und Kiff die langen Strecken erträglicher. Jeder von uns war schon einmal an der Endstation der Straßenbahn verwirrt aufgewacht, weil er eingeschlafen war. Ich begleitete die Band eine Zeit lang als Freundin des Keyboarders und in einem stillem Moment eines Sommers saß ich am Schlagzeug. Ob sich später so eventuelle Liebschaften ergeben hätten? Oder vielleicht nur eine durchwachte Nacht mit hängendem Kondom aus der Hose?

Ich weiß nicht, wenn ich an Marzahn denke, denke ich vor allem an den Kienberg. Ich würde dort Wanderungen und revolutionäre Konzerte veranstalten, wenn ich Jungrevolutionärin wäre. Meine Geschichten sind Vergangenheit und stapeln sich dann immer, wenn ich mal wieder dort war. Es ist viel. Meine Kindheit und meine Jugend.



Montag, 19. August 2013
Den Garten gibt es schon seit den 50er Jahren. Er ist ein Relikt der Vertreibung und man wird ihrer heutzutage immer noch gewahr, wenn man versucht, abends ins Netz zu kommen, da es ansonsten nur eine analoge Telefonleitung gibt. Da wechseln die tschechischen und deutschen Anbieter alle Minuten, so als könnten sie sich nicht entscheiden. Schlussendlich hat man meistens kein Netz, was auch besser der Bestimmung des Ortes entspricht. Abgelegen und auf einem Berg. So wollte es mein Großvater. Es ist ein winziges Dorf, was niemand kennt. Alle halbe Stunde fährt ein Automobil durch und das war es schon. Weswegen man ein Automobil besitzen muss, um sich dort versorgen zu können oder sehr festes Schuhwerk und Ausdauer. Die Buslinien halten außerhalb des Dorfes in einem anderen Dorf und fahren zwei Mal am Tag. Mein halbes Leben hat sich dort abgespielt. Ich habe dort Ski fahren gelernt mit fünf Jahren und gelernt mich in scheinbar unübersichtlichen Wäldern zurechtzufinden. In den Bücherregalen standen jahrzehntelang die Schauermärchen der 20er und 30er Jahre. Als die Enkel begannen Geisteswissenschaften zu studieren, lichteten sich die Regale. Ich konnte immerhin den "Untergang des Abendlandes" sowie einige Goethe-Ausgaben abstauben. Der Garten ist mein geheimes Gefühlsressort, aber auch Erinnerungsort für Wochen mit Freunden. Dort stapelt sich sehenden Auges Geschichte. An diesem Wochenende kam wieder neue hinzu.