Sonntag, 27. Juli 2014
Angie war eine Insel, inmitten der Traube von jugendlichen Abenteurern. Sie trug gerne zart violette Kleidung und im Sommer in Marseille hatte sie häufig in den Abendstunden einen violettfarbenen Taftschal um ihren Hals geschlungen. Sie redete, sparsam Worte nutzend, immer im Singsang des jeweiligen Landes, wo sie sich gerade aufhielt, klug und gewählt. Häufig angetrunken. In Marseille bevorzugte sie Weißwein. Die Monate zuvor war sie in Algerien gewesen und hatte einen befreundeten Maler besucht. Umherreisende sind, wenn sie jung und studiert sind, nichts ungewöhnliches. Angie war jung, hoch gewachsen und ihre langen, festen, gebräunten Beine umwehte ein zarter violetter Stoffrock, als sie in den Abendstunden auf der Terrasse der Pension in Marseille stand. Sie war der Gegensatz zu Catherine, einer Schweizer Krankenschwester, die in ihrer ätherischen blässlichen Anmut und Verhuschtheit einer Kriminellen auf der Flucht glich. Catherine wisperte eher als das sie sprach. Worte brach sie ab, bevor die letzte Silbe ihr Gegenüber erreichen konnte. Ihre Kleidung war ausgesprochen altmodisch und ihre ledernen Koffer schienen aus einem anderen Jahrhundert zu stammen. Mit dieser Ausstattung passte sie auf eine merkwürdige Art in die Herberge von Nizza, die um diese Jahreszeit einem Geisterschloss glich. Sie war ebenfalls auf der Durchreise.

Wenn ich ins Tal fuhr, zur Küste und die Promenade des Anglais entlang lief und Skatern auswich, war die Stadt belebt. Wenn ich in der Innenstadt essen ging und schwarze Cashmere-Pullover kaufte, waren ebenfalls Menschen um mich herum. Ich wollte diesen Irrtum ausgleichen und lief an einem sonnigen Tag nicht den Berg hinab, sondern den Berg hinauf und gelangte in eine eintönige, unbelebte Vorstadtsiedlung und mir wurde klar: Das Leben fand unterhalb des Geisterschlosses statt. Hier war die Grenze.

Ich hatte Häutungen erlebt dieser Tage und war mit einer Faust voll Sand aufgewacht. Angie war weitergezogen und Marseille ab jetzt nur Erinnerung. Desillusioniert setzte ich mich an einem Abend in den Hof der Herberge und schaute auf, als er sich mir näherte. Seine Haut schimmerte grün im schwachen Laternenlicht. Mir ging die fahrige, blasse Elfe nicht mehr aus dem Kopf. Am Nachmittag hatte sie vor mir gestanden und mit ihrer dünnen Stimme flüsternd etwas von einem Pflegeheim in der Schweiz erzählt, wo sie gearbeitet hätte und nun Ausschau halte nach einer neuen Arbeit, irgendwo, irgendwann. Bis dahin wolle sie in Nizza bleiben. Ihr Französisch war deutsch, kein Französisch, dass deutsch klingen wollte. Ich glaubte ihr kein Wort. Sie log, wegen irgendetwas log sie. Als ich ihm davon erzählte, sagte er: "Es gibt viele seltsame Menschen hier. Hier und auf der Welt."

Er käme aus Marokko, sagte er, was ich ihm auch nicht glaubte. Aber ich ließ mir nichts anmerken. Sein Französisch wiederum war eine Katastrophe, so dass wir Englisch sprachen. Wir rauchten und redeten über dies und das und es schien, als bohrte sich allmählich die Erinnerung durch seinen Kopf. Ich trank derweilen Bier und wurde schnell betrunken und plötzlich Teil seiner quälenden Erinnerung. Seine Aussage, er wäre noch nie in Deutschland gewesen und dass er kein Deutsch könne, verflog, als er kurz vor Ende des Gesprächs in seltsamer Manier und in falsch gebrochenem Deutsch etwas flüsterte von Berlin und der Potsdamer Straße und das Café M kannte. Meine augenblickliche Verwirrung verschmolz mit dem Laternenlicht und einer Ansage der sternklaren Nacht, dass ich nicht weiter fragen dürfte. Er verabschiedete sich abrupt. Ich konnte ihn nicht aufhalten und war ziemlich durchgefroren.

Am nächsten Morgen saßen wir uns beim Frühstück gegenüber und ich hatte das gesamte Unwohlsein seines vorabendlichen Abschieds noch immer in mir. Er aß nicht, trank schwarzen Kaffee und sah mich immer wieder verächtlich und zugleich erschrocken an. Nach dem Frühstück suchte er mich noch kurz auf. Wir rauchten gemeinsam eine Zigarette im beginnenden gleißenden Tageslicht auf einer Bank im Schlosspark und er plauderte jetzt freundlicher. So Sachen halt, dass er nichts essen könne am Morgen und alles schwierig sei. Er sprach wieder in diesem gebrochenen Englisch und ich ging nicht weiter auf den vergangenen Abend ein. Eine diffuse Angst machte sich in mir breit und ich sah das Bild der Schweizerin vor meinem inneren Auge, wie sie leise sprach, fahrig war und anscheinend auf Flucht.

Ich beeilte mich an diesem Morgen mehr als gewöhnlich, um in die Stadt zu gelangen, obwohl ich überhaupt nichts vorhatte. Ich lief den ganzen Tag über die Promenade des Anglais auf und ab und versuchte abzuschalten. Ich trug jetzt eine Information in mir, die eigentlich nur eine wage Ahnung war, denn ich wusste nichts, außer dass ich zwei einsamen Menschen begegnet war, die auf der Flucht waren. Und selbst das war nur eine Ahnung. Aber sie hatten mich mitten hinein in mein Puppengesicht belogen und mein geschulter Verstand sagte mir: Pass bloß auf!

Sie waren nicht mehr da, als ich spät am Abend das Schloss erreichte und ich war schlichtweg erleichtert.



Montag, 30. September 2013
Ich werde dich in meiner Hand schlafen lassen, schrieb er ihr. Sie saß lautlos vor dem Bildschirm, ein Bein hochgezogen und das Knie an die Tischkante gelehnt. Von der Straße drang ein leises ununterbrochenes Rauschen zu ihr hoch. Die Bilder hatten sich mit jedem neuen Satz verschoben, so dass sie gegen Ende gemeinsam auf einer Veranda saßen. Irgendwo im Umland von Berlin. Ihr schlafender Kopf in seiner Hand. Wie ein Kissen, schrieb er ergänzend. Jedes Wort, welches er schrieb, war eine Neuentdeckung. Jeder Moment füllte sich mit unbesehenem Filmmaterial. Behutsam überzog er die Innenflächen mit dem Wunsch nach Ruhe. Wenn er abends alleine zu Hause saß, schaltete er häufig den Fernseher an und schaute ausländische Sender, in denen fremde Landschaften zu sehen waren. Das beglückte ihn. Auf den Photos stand er in seinem kleinen Garten, von der Sonne beschienen und der Welt entrückt.

Bagdad sei eine traurige Stadt, schrieb er. Er vermied es, das Grauen näher zu benennen. Sie sah einen alten Soldatenhelm vor sich, in dem sich Brackwasser gesammelt hatte. Der salzige Soldatenschweiß hatte sich mit Regenwasser vermischt. Der Helm lag an einer Straßenecke, helles Gestein einer Hausmauer und die Einschusslöcher an der Wand vermittelten Unruhe. Umgestürzte, beschädigte Statuen in der Stadt, versteckte Statuen in Kellern. Die Kunst der Diktatur war von den Straßen entfernt worden und in der Stadt herrschte danach eine seltsame Leere. Die anhaltenden Unruhen ließen es aber nicht zu, dass etwas neues entstand, so wie das damals in Berlin der Fall war. "Es liegt ein Grauschleier über der Stadt, den meine Mutter noch nicht weggewaschen hat" (Monarchie und Alltag, Fehlfarben)

Seine Gefühle gegenüber Bagdad hatten sich nach dem Krieg verändert. Es ist eine traurige Stadt geworden, wiederholte er und sie schaut nicht mehr so aus wie früher. Sie legte ihren Kopf in seine Hand. Alles um sie herum wurde friedlich. Die Sperrstunde verwandelte Bagdad allnächtlich in eine Geisterstadt. Davon war hier nichts zu spüren. Sie saßen am späten Abend in seinem Garten und lauschten den Zikaden. Galerien gäbe es auch nicht mehr besonders viele, erzählte er. Sie versuchte ihn zu heilen, ein wenig, erzählte von den Seen im Berliner Umland, von den kleinen Dörfern, wo inzwischen viele Künstler wohnen. Und das Wasser ist ohne Salz, ja, es ist nicht salzig. Sie lachten einander zu und tranken kalte Cola.

Es gab keine Leichen, keine verstümmelten Menschen und keine Armut in diesem kleinen Garten. Er besuchte regelmäßig die Universität und wollte bald sein Studium der Innenarchitektur beenden. Zwei von ihm angefertige Skulpturen standen neben einem kleinen Schuppen und warteten darauf, in die Stadt gebracht zu werden. Eine der Skulpturen war ein Kinderkörper, der einen Helm trug und dessen Arme mittels zwei Leuchtern gestaltet waren. Den Körper hatte er aus Ornamenten geformt, die er in Schutthaufen zerbombter Häuser gefunden hatte. Die dem inne wohnende Traurigkeit überbot die Skurilität. Die andere Skulptur war ein Frauenkörper, sanft verhüllt und die Geschlechtsmerkmale waren nur zart angedeutet. “Ich stelle mir vor, eines Tages mit dir an einem See zu sitzen und die Sonne scheint auf das Gras. Gefällt dir das?” “Ja”, sie nickte nachdenklich. Sie war hier zu Gast, in seinem Garten, aber doch weit entfernt. Sie sprach gern mit ihm und es fiel ihr alles so leicht, wenn er anwesend war. Sie fürchtete um ihr Seelenheil, denn der Garten war nur ihr gemeinsames Konstrukt, auch wenn sie jeden Abend dort saßen und redeten. Er suchte nach seiner zweiten Hälfte für den Rest seines Lebens.

Eines Abends, sie hatte zuviel Wein getrunken, begann sie ihn zu provozieren und die Idylle in Frage zu stellen. “Warum all diese Gärten, Kuppeln und Harmlosigkeiten? Verdammt! Ihr hattet gerade einen bestialischen Krieg hinter euch. Warum ist euch nicht danach zu schreien?”, schrieb sie wütend in das leere Textfeld. Es blieb eine Weile lang still. Sie befürchtete, ihn verloren zu haben. Minuten später schrieb er: “Wir sind zu erschöpft.”. Er erwartete nicht von ihr, dass sie ihn verstand. Es gibt keinen Krieg ohne Zensur und die aktuelle Lage gebot es, Stillschweigen zu bewahren. “Wir sind doch keine Leichenmaler.”, flüsterte er leise zornig, die Worte für sich behaltend. Er stand auf und vor dem Schein des Rechners sah er, wie seine Hände zitterten. Er ging zum Fenster und schaute in das Dunkel des leeren Gartens hinein. Er hatte gerne mit ihr geredet, weil sie eine gute Zuhörerin war. Er ging in den Garten zu dem kleinen Schuppen und stieß die Skulptur des Kriegskindes um. Die Leuchter verfingen sich in einem Strauch und die Ästchen federten sanft das Kunstwerk ab. Der Schrei kam aus seinem Innersten. Er hatte ihn nicht geplant, aber plötzlich war er da. In die darauf folgende Stille hinein raschelte es und das Kriegskind sank nun vollständig auf die Erde.

Ahmed war in jeder Hinsicht ein unkomplizierter Mann, der das Ruhige und die Natur liebte. Die Menschen sollten ehrlich und freundlich zu ihm sein. Ihm war daran gelegen, was andere dachten und fühlten. Er hatte Anne in seine inneren Kreise gelassen und sie durfte an seinen Gefühlen, seinem Leben teilhaben. Er wollte gerne reisen, die Welt außerhalb des Gartens und der nächtlichen Sperrstunden erkunden. Freunde von ihm waren nach London gegangen und einer von ihnen stellte seine Bilder in einer kleinen Galerie aus. Die Galerien in Bagdad hatten nicht nur geschlossen, weil keine neue Kunst nachkam, sondern auch, weil vieles Vorhandene dem Krieg zum Opfer gefallen war. Ein Großteil der Gemälde des Museum of Modern Art Bagdad war entweder verbrannt, beschädigt oder gestohlen worden. Eine leer geplünderte Stadt. Das war Bagdad.

Kunst ist ein Glücksfall. Du kannst zeigen, was du hast, wer du bist und was du fühlst, hatte er Anne einmal geschrieben. Man muss aber auch die Chance dazu bekommen. Nach ihrem Streit hatten Anne und er nur noch sporadisch miteinander geschrieben. Auf dem Markt hatte er sich eine Reisetasche besorgt, um zu schauen, wieviel in so eine Tasche passen würde. Anne und Ahmed. Er biss sich auf die Lippen. Wenn er gehen würde, käme er so schnell nicht wieder. Es gab niemanden, dem er ein Versprechen geben müsste. Doch zunächst blieb er. Studierte, pflegte den Garten, überlegte sich eine neue Skulptur und blendete allabendlich vor dem Fernseher den Grauschleier der Stadt aus.

Bagdad ist jetzt ohne Seele. Viele Menschen wurden getötet und es ist nicht mehr sicher. Wenn ich hier traurig bin oder einsam, weiß ich nicht, was ich tun soll. Dann schaue ich Fernsehen und sehe die Natur an anderen Orten der Welt. Das macht mich glücklich. Die Ruhe und die Natur. Um Berlin herum sind viele Seen. Jeder fährt an einen See im Sommer. Das klingt schön. Ich war noch nie an einem See und stelle es mir gerade vor, wie wir dort zusammen sitzen. Kannst du die Eule hören?

Ich werde Photos von dir machen. Ich werde es lieben. Ich auch. Ich werde dich in meiner Hand schlafen lassen. Und das Kind schläft im Schatten auf der Veranda. Das wäre wunderschön. Friedvoll. Ja friedvoll. Ich vermisse den Frieden so sehr. Ich möchte dir allen Frieden der Welt schenken. Ich möchte, dass deine Welt friedvoll ist. Ich möchte dich glücklich sehen. Ich werde dich malen. Nackt? Was immer du möchtest. Mein Gesicht, du musst mein Gesicht malen! Ich mache auch eine Skulptur von dir.
Wenn wir am See sind, werden wir die Sonne auf dem Antlitz des anderen sehen.

Anne zog das Knie von der Tischkante. Sie glitt mit der Hand über den roten Abdruck und wartete auf eine Antwort. Zunächst nur einige Minuten. Dann ging sie zum Fenster und starrte gedankenverloren den Autos hinterher. Ahmed saß eingehüllt in die Dunkelheit vor seinem schwarzen Rechner. Vermutlich würde er ihr heute nicht mehr schreiben können. Der Strom war ausgefallen und wenn es um diese Zeit passierte, blieb er meist bis zum nächsten Morgen aus. Anne wartete nicht mehr bis zum nächsten Abend sondern löschte ihren Account und ging schlafen.



Montag, 8. April 2013
¶ Bleib
In zwei Minuten lässt sich so viel denken und Zusammenhänge werden kurz verknüpft, wo sie auf den ersten Blick unmöglich erschienen und die dazugehörigen Gefühle werden abgeglichen und möglicherweise kannst du danach ein wenig aufatmen, hoffen, einen Schritt weiter zu sein. Die Gedanken strömen, ja fallen geradezu wie Tetrissteine in den weißen Raum und harren darauf gestapelt und sortiert zu werden. Wie in einem Bällebad, einem computerisierten Anstaltsraum, in welchem Plastikwörter aus Tetrissteingebilden durch die Insassen gestapelt werden. Unaufhörlich. Eine grobschlächtige, grob gepixelte und legonsteinbunte Welt, in Gleichförmigkeiten gebannt, so als gäbe es keine Wellen, keinen Hauch, keine Verzögerung und kein Formenwirrwarr. Nur gestapelte Tetrisware. Digitales Berlin.
Wie aus einer anderen Welt erscheinen mir da die alten gesammelten Postkarten, die Flyer und Konzerttickets, zahllose Schnipselsammlungen von Telefonnummern und der zarte weiche Staub, welcher über Jahre die Stapel gelenkartig zu einer Ziehharmonika verbunden hat, benennt die zurückgelegte Zeit. Zuweilen ist der Staub von einer klebrigen Schlierenschicht unterlegt, einer festgelegten Vergangenheit. Was sich da alles in den Jahren angesammelt hat. Was werde ich alles hinter mir lassen? Ist das aufzählbar? Die unzähligen Parties und Clubs und all die kostbaren und manchmal auch weniger kostbaren Jahre, gefüllt mit Liebe, Verlogenheit und Trauer. Sich runterschreiben, die Gedanken schweifen lassen und in die Tiefe gehen und Luft holen. Tief Luft holen. Bevor ich mich noch einmal kurz umdrehe, um dann leicht federnden Schrittes die Treppen herunterzusteigen, übergebe ich Betty das geschnürte Bündel mit den alten Geschichten. Ich greife links und rechts nach den Koffern und trete in den Sonnenkegel des Vorhofs. Ich bin raus. Und Berlin ist vorläufig Geschichte und erzählbar geworden.
Während ich hier versuche, die Vergangenheit zusammenzutragen, dreht sich die Stadt weiter und alle Erinnerungen, wo man eng umschlungen, knutschend und keuchend oder drogenbleich in kalten Treppenhäusern saß, um Lichtspiele einzufangen, gehören anderen Zeiten an. Aber nicht dem hier und jetzt. Meine Zeitwahrnehmung schwankt. Ich spinne Netze, betrete Grauzonen, hebe Grabdeckel, um den kühlen Gestank zu riechen und glotzend, offenen Auges in die Grabstelle zu schauen. Verwest. Das alles.
Aber es sind nicht nur die Erinnerungen. Ich suche ein Wesen; ein Wesen zusammengesetzt aus Erinnerungen, Videos, Büchern und Erzählungen, während ich die Straßen auf und ab laufe. Punktuell tauchen Partys aus vergangenen Zeiten auf, zum Beispiel während ich an einer fünfhundert Meter entfernten Straßenampel lehne und in der Wohnung längst andere Mieter eingezogen sind. Aber diese Party von vor zehn Jahren ist mir momentan präsent und gegenwärtig, während ich die geklebten Zettel abtaste, flüchtig um mich schaue und auf grün warte, während die Zeit ununterbrochen und unbarmherzig weiterläuft.



Samstag, 15. Dezember 2012
Gegen die Monogamie spricht der große intellektuelle Nutzen von Affären.


Eine meiner längeren und glücklich währenden Affären hatte einen Zusatzbonus; dergestalt, dass meine erste Aufmerksamkeit beim Betreten der Wohnung des Mannes nicht dem Interieur oder dem Bett galt, sondern dem Bücherregal. Der freudige Ausdruck des Mannes in seinem Gesicht sowie diesen ihn begleitender Satz: "Du bist die erste Frau, die sich für meine Bücher interessiert!", ließen mich, zweiundzwanzigjährige Frau, die ich war, etwas sprachlos zurück. Aber der Satz, welcher Ausdruck reeller Freude war, blieb haften - sowie auch spätere Versuche, diesen Mann näher an mich zu binden.

Der Affärenzustand an sich ist ein Bekenntnis zu und ein Beharren auf einen ewig währenden Ausnahmezustand, welcher eben dadurch belebt wird und dieser Logik meist noch nach Jahren folgt. Man ist zu nichts verpflichtet, lebt in getrennten Wohnungen, ist irgendwie aufeinander eingeschossen, aber doch in so vielem getrennt und Monate ohne den anderen sind in der Regel auch nicht ungewöhnlich. Mir nutzte seine intellektuelle Gesellschaft insofern, dass ich anderen Affären gegenüber gelassener auftrat, mich in der Vielfalt der Männerwelt besser zurecht fand und einen sanften Rückhalt hatte. Er war wie eine große warme Kraft, gegen die man sich auflehnen konnte und bei der man sich anlehnen mochte. Wenn ich ihn anderswo zitierte, wusste ich, keinen Schmonzes von mir gegeben zu haben.

Unser gemeinsames Leben beschränkte sich auf Restaurantbesuche, Filmabende und wilden Diskussionen bei Musik und Wein - ich hätte mir kaum schöneres vorstellen können und darum interessierte mich wenig, was er eventuell vor mir verborgen hielt, weil es gefühlt relativ wenig sein konnte. Was es bei weitem nicht war. Denn für ihn hieß Lebensgenuss, sich mit sechs weiteren Frauen eingelassen zu haben. Jede Frau auf ihre Weise schön und liebenswert, alle kaum voneinander wissend, war also ein Steinchen in diesem seinen Mosaikgebilde. Sein intellektuelles und emotionales Reich, ein reichhaltiges Gebilde. Da, wo man manchmal Menschen nicht teilen möchte, wurde es für mich schwer, aber zugleich war ich auch unfähig, mir nach jahrelangem Affärenzustand etwas anderes vorzustellen. Wir fuhren auf einem See in seinem Boot umher und warfen uns unsere mageren Zukunftsaussichten zu, schauten den anderen an - von oben, hinten und vorne. Vielleicht wollte er mir auch nur extra beweisen, wie sinnlos diese Idee war, während wir uns Häuser am Ufer anschauten, uns mit Segelclubmitgliedern unterhielten und uns mehr von einander entfernten an diesem Tag, als all die Jahre zuvor.

Jedes Beziehungsmodell hat seine Zeit, wobei ich glaube, dass es da keine Richtlinien in der Abfolge gibt. Das Leben belehrt uns immer wieder eines besseren, wie wir alle wissen. Und manchmal ist man irritiert von Wiederholungen oder vermag manches nicht einzuordnen oder es kommt gerade ungelegen und dann wusste man es erst hinterher, dass da etwas war.