"Mitte funktioniert" - das muss die von auswärts kommende Nachtschwärmerin gedacht haben, als ich ihr freundlich Auskunft gab, wo hier die nächste U-Bahn-Station sei. Ich saß bereits einige Zeit auf der Bank am Gendarmenmarkt, um meine Füße auszuruhen, die heute einiges zu tun gehabt hatten, bis sie irgendwann kam und sich auf die Bank daneben setzte. Vorsichtshalber hielt ich meine Zigarette in die andere Richtung, bis ich erleichtert feststellte, dass sie sich auch eine anzündete. Sie plauderte mit jemandem am Telefon, dass es hier eine gute Bar gäbe und zudem stünden eine Menge Restaurants zur Auswahl. Mit einem festen und glücklichen Blick bedankte sie sich extra noch einmal für meine U-Bahn-Auskunft bevor sie ging und auf ihren Stiefelchen Richtung Nacht und Leben davonschwebte. Unterdessen hatte sich der Himmel eingetrübt und die Lampen warfen dieses seltsame Berlinlicht, wie es früher die Karl-Marx-Allee hatte in den Abendstunden, bevor das hässliche kalte Öko-Sparlicht Einzug hielt. Ich klappe die Augen auf und zu. Den Gendarmenmarkt kann ich auf meinem persönlichen Zeitstreifen bis in die Vorwendezeit zurückverfolgen und verblüffend daran ist, es hat sich kaum etwas geändert. Der Platz, die Laternen und die Menschengruppen - all das gab es schon vor dreißig Jahren. Das fühlt sich verbindlich an, vertraut und für geraume Zeit unzerstörbar.
Angie war eine Insel, inmitten der Traube von jugendlichen Abenteurern. Sie trug gerne zart violette Kleidung und im Sommer in Marseille hatte sie häufig in den Abendstunden einen violettfarbenen Taftschal um ihren Hals geschlungen. Sie redete, sparsam Worte nutzend, immer im Singsang des jeweiligen Landes, wo sie sich gerade aufhielt, klug und gewählt. Häufig angetrunken. In Marseille bevorzugte sie Weißwein. Die Monate zuvor war sie in Algerien gewesen und hatte einen befreundeten Maler besucht. Umherreisende sind, wenn sie jung und studiert sind, nichts ungewöhnliches. Angie war jung, hoch gewachsen und ihre langen, festen, gebräunten Beine umwehte ein zarter violetter Stoffrock, als sie in den Abendstunden auf der Terrasse der Pension in Marseille stand. Sie war der Gegensatz zu Catherine, einer Schweizer Krankenschwester, die in ihrer ätherischen blässlichen Anmut und Verhuschtheit einer Kriminellen auf der Flucht glich. Catherine wisperte eher als das sie sprach. Worte brach sie ab, bevor die letzte Silbe ihr Gegenüber erreichen konnte. Ihre Kleidung war ausgesprochen altmodisch und ihre ledernen Koffer schienen aus einem anderen Jahrhundert zu stammen. Mit dieser Ausstattung passte sie auf eine merkwürdige Art in die Herberge von Nizza, die um diese Jahreszeit einem Geisterschloss glich. Sie war ebenfalls auf der Durchreise.
Wenn ich ins Tal fuhr, zur Küste und die Promenade des Anglais entlang lief und Skatern auswich, war die Stadt belebt. Wenn ich in der Innenstadt essen ging und schwarze Cashmere-Pullover kaufte, waren ebenfalls Menschen um mich herum. Ich wollte diesen Irrtum ausgleichen und lief an einem sonnigen Tag nicht den Berg hinab, sondern den Berg hinauf und gelangte in eine eintönige, unbelebte Vorstadtsiedlung und mir wurde klar: Das Leben fand unterhalb des Geisterschlosses statt. Hier war die Grenze.
Ich hatte Häutungen erlebt dieser Tage und war mit einer Faust voll Sand aufgewacht. Angie war weitergezogen und Marseille ab jetzt nur Erinnerung. Desillusioniert setzte ich mich an einem Abend in den Hof der Herberge und schaute auf, als er sich mir näherte. Seine Haut schimmerte grün im schwachen Laternenlicht. Mir ging die fahrige, blasse Elfe nicht mehr aus dem Kopf. Am Nachmittag hatte sie vor mir gestanden und mit ihrer dünnen Stimme flüsternd etwas von einem Pflegeheim in der Schweiz erzählt, wo sie gearbeitet hätte und nun Ausschau halte nach einer neuen Arbeit, irgendwo, irgendwann. Bis dahin wolle sie in Nizza bleiben. Ihr Französisch war deutsch, kein Französisch, dass deutsch klingen wollte. Ich glaubte ihr kein Wort. Sie log, wegen irgendetwas log sie. Als ich ihm davon erzählte, sagte er: "Es gibt viele seltsame Menschen hier. Hier und auf der Welt."
Er käme aus Marokko, sagte er, was ich ihm auch nicht glaubte. Aber ich ließ mir nichts anmerken. Sein Französisch wiederum war eine Katastrophe, so dass wir Englisch sprachen. Wir rauchten und redeten über dies und das und es schien, als bohrte sich allmählich die Erinnerung durch seinen Kopf. Ich trank derweilen Bier und wurde schnell betrunken und plötzlich Teil seiner quälenden Erinnerung. Seine Aussage, er wäre noch nie in Deutschland gewesen und dass er kein Deutsch könne, verflog, als er kurz vor Ende des Gesprächs in seltsamer Manier und in falsch gebrochenem Deutsch etwas flüsterte von Berlin und der Potsdamer Straße und das Café M kannte. Meine augenblickliche Verwirrung verschmolz mit dem Laternenlicht und einer Ansage der sternklaren Nacht, dass ich nicht weiter fragen dürfte. Er verabschiedete sich abrupt. Ich konnte ihn nicht aufhalten und war ziemlich durchgefroren.
Am nächsten Morgen saßen wir uns beim Frühstück gegenüber und ich hatte das gesamte Unwohlsein seines vorabendlichen Abschieds noch immer in mir. Er aß nicht, trank schwarzen Kaffee und sah mich immer wieder verächtlich und zugleich erschrocken an. Nach dem Frühstück suchte er mich noch kurz auf. Wir rauchten gemeinsam eine Zigarette im beginnenden gleißenden Tageslicht auf einer Bank im Schlosspark und er plauderte jetzt freundlicher. So Sachen halt, dass er nichts essen könne am Morgen und alles schwierig sei. Er sprach wieder in diesem gebrochenen Englisch und ich ging nicht weiter auf den vergangenen Abend ein. Eine diffuse Angst machte sich in mir breit und ich sah das Bild der Schweizerin vor meinem inneren Auge, wie sie leise sprach, fahrig war und anscheinend auf Flucht.
Ich beeilte mich an diesem Morgen mehr als gewöhnlich, um in die Stadt zu gelangen, obwohl ich überhaupt nichts vorhatte. Ich lief den ganzen Tag über die Promenade des Anglais auf und ab und versuchte abzuschalten. Ich trug jetzt eine Information in mir, die eigentlich nur eine wage Ahnung war, denn ich wusste nichts, außer dass ich zwei einsamen Menschen begegnet war, die auf der Flucht waren. Und selbst das war nur eine Ahnung. Aber sie hatten mich mitten hinein in mein Puppengesicht belogen und mein geschulter Verstand sagte mir: Pass bloß auf!
Sie waren nicht mehr da, als ich spät am Abend das Schloss erreichte und ich war schlichtweg erleichtert.
Wenn ich ins Tal fuhr, zur Küste und die Promenade des Anglais entlang lief und Skatern auswich, war die Stadt belebt. Wenn ich in der Innenstadt essen ging und schwarze Cashmere-Pullover kaufte, waren ebenfalls Menschen um mich herum. Ich wollte diesen Irrtum ausgleichen und lief an einem sonnigen Tag nicht den Berg hinab, sondern den Berg hinauf und gelangte in eine eintönige, unbelebte Vorstadtsiedlung und mir wurde klar: Das Leben fand unterhalb des Geisterschlosses statt. Hier war die Grenze.
Ich hatte Häutungen erlebt dieser Tage und war mit einer Faust voll Sand aufgewacht. Angie war weitergezogen und Marseille ab jetzt nur Erinnerung. Desillusioniert setzte ich mich an einem Abend in den Hof der Herberge und schaute auf, als er sich mir näherte. Seine Haut schimmerte grün im schwachen Laternenlicht. Mir ging die fahrige, blasse Elfe nicht mehr aus dem Kopf. Am Nachmittag hatte sie vor mir gestanden und mit ihrer dünnen Stimme flüsternd etwas von einem Pflegeheim in der Schweiz erzählt, wo sie gearbeitet hätte und nun Ausschau halte nach einer neuen Arbeit, irgendwo, irgendwann. Bis dahin wolle sie in Nizza bleiben. Ihr Französisch war deutsch, kein Französisch, dass deutsch klingen wollte. Ich glaubte ihr kein Wort. Sie log, wegen irgendetwas log sie. Als ich ihm davon erzählte, sagte er: "Es gibt viele seltsame Menschen hier. Hier und auf der Welt."
Er käme aus Marokko, sagte er, was ich ihm auch nicht glaubte. Aber ich ließ mir nichts anmerken. Sein Französisch wiederum war eine Katastrophe, so dass wir Englisch sprachen. Wir rauchten und redeten über dies und das und es schien, als bohrte sich allmählich die Erinnerung durch seinen Kopf. Ich trank derweilen Bier und wurde schnell betrunken und plötzlich Teil seiner quälenden Erinnerung. Seine Aussage, er wäre noch nie in Deutschland gewesen und dass er kein Deutsch könne, verflog, als er kurz vor Ende des Gesprächs in seltsamer Manier und in falsch gebrochenem Deutsch etwas flüsterte von Berlin und der Potsdamer Straße und das Café M kannte. Meine augenblickliche Verwirrung verschmolz mit dem Laternenlicht und einer Ansage der sternklaren Nacht, dass ich nicht weiter fragen dürfte. Er verabschiedete sich abrupt. Ich konnte ihn nicht aufhalten und war ziemlich durchgefroren.
Am nächsten Morgen saßen wir uns beim Frühstück gegenüber und ich hatte das gesamte Unwohlsein seines vorabendlichen Abschieds noch immer in mir. Er aß nicht, trank schwarzen Kaffee und sah mich immer wieder verächtlich und zugleich erschrocken an. Nach dem Frühstück suchte er mich noch kurz auf. Wir rauchten gemeinsam eine Zigarette im beginnenden gleißenden Tageslicht auf einer Bank im Schlosspark und er plauderte jetzt freundlicher. So Sachen halt, dass er nichts essen könne am Morgen und alles schwierig sei. Er sprach wieder in diesem gebrochenen Englisch und ich ging nicht weiter auf den vergangenen Abend ein. Eine diffuse Angst machte sich in mir breit und ich sah das Bild der Schweizerin vor meinem inneren Auge, wie sie leise sprach, fahrig war und anscheinend auf Flucht.
Ich beeilte mich an diesem Morgen mehr als gewöhnlich, um in die Stadt zu gelangen, obwohl ich überhaupt nichts vorhatte. Ich lief den ganzen Tag über die Promenade des Anglais auf und ab und versuchte abzuschalten. Ich trug jetzt eine Information in mir, die eigentlich nur eine wage Ahnung war, denn ich wusste nichts, außer dass ich zwei einsamen Menschen begegnet war, die auf der Flucht waren. Und selbst das war nur eine Ahnung. Aber sie hatten mich mitten hinein in mein Puppengesicht belogen und mein geschulter Verstand sagte mir: Pass bloß auf!
Sie waren nicht mehr da, als ich spät am Abend das Schloss erreichte und ich war schlichtweg erleichtert.
Neulich habe ich diesen Zettel gefunden, auf dem ich einen Traum aufgeschrieben hatte, irgendwann dieses Jahr im Winter. Es klang alles so wunderschön und entsprach damit überhaupt nicht meiner derzeitigen Situation, bis ich etwas genauer zu überlegen begann. Vor zwei Jahren war ich wirklich verzweifelt gewesen. Es stimmte nämlich von vorne bis hinten nichts. Und so begann ich Stück für Stück mein Leben aufzuräumen. Jetzt stehen in dieser Wohnung regelmäßig frische Blumen und ich schlafe gut durch. Was ich mir noch wünsche, ist das Sommerfeuerwerk samt Lillet natürlich. Bis dahin werde ich in den großartigen Bahnen, die sich mir kürzlich eröffnet haben, schwimmen und jeden Moment genießen.