Montag, 8. April 2013
¶ Bleib
In zwei Minuten lässt sich so viel denken und Zusammenhänge werden kurz verknüpft, wo sie auf den ersten Blick unmöglich erschienen und die dazugehörigen Gefühle werden abgeglichen und möglicherweise kannst du danach ein wenig aufatmen, hoffen, einen Schritt weiter zu sein. Die Gedanken strömen, ja fallen geradezu wie Tetrissteine in den weißen Raum und harren darauf gestapelt und sortiert zu werden. Wie in einem Bällebad, einem computerisierten Anstaltsraum, in welchem Plastikwörter aus Tetrissteingebilden durch die Insassen gestapelt werden. Unaufhörlich. Eine grobschlächtige, grob gepixelte und legonsteinbunte Welt, in Gleichförmigkeiten gebannt, so als gäbe es keine Wellen, keinen Hauch, keine Verzögerung und kein Formenwirrwarr. Nur gestapelte Tetrisware. Digitales Berlin.
Wie aus einer anderen Welt erscheinen mir da die alten gesammelten Postkarten, die Flyer und Konzerttickets, zahllose Schnipselsammlungen von Telefonnummern und der zarte weiche Staub, welcher über Jahre die Stapel gelenkartig zu einer Ziehharmonika verbunden hat, benennt die zurückgelegte Zeit. Zuweilen ist der Staub von einer klebrigen Schlierenschicht unterlegt, einer festgelegten Vergangenheit. Was sich da alles in den Jahren angesammelt hat. Was werde ich alles hinter mir lassen? Ist das aufzählbar? Die unzähligen Parties und Clubs und all die kostbaren und manchmal auch weniger kostbaren Jahre, gefüllt mit Liebe, Verlogenheit und Trauer. Sich runterschreiben, die Gedanken schweifen lassen und in die Tiefe gehen und Luft holen. Tief Luft holen. Bevor ich mich noch einmal kurz umdrehe, um dann leicht federnden Schrittes die Treppen herunterzusteigen, übergebe ich Betty das geschnürte Bündel mit den alten Geschichten. Ich greife links und rechts nach den Koffern und trete in den Sonnenkegel des Vorhofs. Ich bin raus. Und Berlin ist vorläufig Geschichte und erzählbar geworden.
Während ich hier versuche, die Vergangenheit zusammenzutragen, dreht sich die Stadt weiter und alle Erinnerungen, wo man eng umschlungen, knutschend und keuchend oder drogenbleich in kalten Treppenhäusern saß, um Lichtspiele einzufangen, gehören anderen Zeiten an. Aber nicht dem hier und jetzt. Meine Zeitwahrnehmung schwankt. Ich spinne Netze, betrete Grauzonen, hebe Grabdeckel, um den kühlen Gestank zu riechen und glotzend, offenen Auges in die Grabstelle zu schauen. Verwest. Das alles.
Aber es sind nicht nur die Erinnerungen. Ich suche ein Wesen; ein Wesen zusammengesetzt aus Erinnerungen, Videos, Büchern und Erzählungen, während ich die Straßen auf und ab laufe. Punktuell tauchen Partys aus vergangenen Zeiten auf, zum Beispiel während ich an einer fünfhundert Meter entfernten Straßenampel lehne und in der Wohnung längst andere Mieter eingezogen sind. Aber diese Party von vor zehn Jahren ist mir momentan präsent und gegenwärtig, während ich die geklebten Zettel abtaste, flüchtig um mich schaue und auf grün warte, während die Zeit ununterbrochen und unbarmherzig weiterläuft.



Freitag, 5. April 2013
Ich möchte den Moment nehmen, als ich zum ersten Mal das Schwarze Meer sah und es dunkelblau am Horizont schimmerte und dann direkt in den kolumbianischen Tropenwald einbiegen, das Schwarze Meer als Erinnerung, als Zettel zerknüllt in der Hosentasche tragend. Während der Nacht im Zelt am Strand würde ich von Jaffa bei Nacht träumen und die unzähligen Lichter von Tel Aviv von einem Taxi aus bestaunen und mich an das lebendige Nachtleben von Athen erinnern und den Duft von Süßigkeiten.

Die endlosen kühlen Wälder von Schweden und Norwegen würde ich herbeisehnen, während ich die Treppen in Florenz hinabsteige und in Rom ermattet von der Tageshitze Pizza esse. Den seltsamen alteuropäischen Charme von Vilnius lasse ich über Prag und Wien als Glitzerstaub herabrieseln und verteile die Reste in den Gassen von Lissabon, wo ich tief den afrikanischen Odeur inhaliere, welcher auf wundersame Weise ohne Abstriche das Meer überqueren konnte, um dann Rolling Stones hörend auf einer ostafrikanischen rough road in den Mond über Sinai hineinzusteigen.

Den Gare du Nord bewohne ich bei Nacht und vom Smolenskaja eile ich fort, um zusammen mit Behemoth Champagner trinken zu gehen und fände mich bei Morgengrauen in einem Londoner Park wieder. Nach einem verschlafenem Tag äße ich Tappas in Barcelona und würde mit wehendem Mantel nach einer Umdrehung Utrecht erreichen, um ein Weißbier zu trinken. Später säße ich im Holländischen Viertel vom Wedding, mich an den Böhmischen Platz in Neukölln erinnernd.

Was immer auch sein wird.



Mittwoch, 6. März 2013
Es gibt mehrere Aspekte, die mich an dem Interview mit Robert Pfaller in der FAZ gestört haben.

1
Da wäre zunächst die erste Frage, in der Brüderles Aussage als "plumpes Kompliment" deklariert wird, wobei dies eben nicht der Fall war, sondern es sich um eine Retourkutsche handelte, angesprochen auf sein Alter. Und da das Alter für einige Männer gleichbedeutend mit weniger Manneskraft ist, war dies eine Antwort, die ihm logisch erschien. Ungeachtet dessen bezieht sich Pfaller in der ersten Antwort auf Dominique Strauss-Kahn und die darauffolgenden Proteste, die seiner Ansicht nach, welche im übrigen unter Männern, egal wie sie politisch aufgestellt sind, eine populäre ist, geschickt für politische Zwecke eingesetzt wurden. Was im Fall von Dominique Strauss-Kahn tatsächlich passiert ist, wird wohl nicht mehr an die Öffentlichkeit dringen und die sachliche Erörterung seiner Schuld, die kaum zu Stande kam, ist tatsächlich einer überpräsenten Öffentlichkeit geschuldet. Die traurige Wahrheit ist doch aber auch, dass die Proteste zahlreicher Hotelangestellten plötzlich mit Verschwörungstheorien vermischt wurden. Politische Verschwörungskonstrukte, welche ebenso ein heiliges Faszinosum sämtlicher politischer Kultur darstellen. Die Zimmermädchen in ihrer großen Anzahl haben doch sicherlich nicht grundlos protestiert, sondern höchstwahrscheinlich aus schlimmen Erfahrungen heraus, welche eben mit Abhängigkeit, Gewalt und Ausbeutung zu tun haben. In solchen Momenten frage ich mich immer nach der sexuellen Anziehungskraft von Verschwörungstheorien. Und ich denke, Zimmermädchen möchten in der Regel freundlich behandelt, gut bezahlt und ansonsten in Ruhe gelassen werden. Der Fall Dominique Strauss-Kahn kann jedoch nicht mit der Debatte um #Aufschrei verglichen werden.

2
In der zweiten Antwort bittet Robert Pfaller uns Frauen darum, den gespielten Sexismus und die gespielte Belästigung in der Öffentlichkeit doch auch als solche wahrzunehmen. Prinzip: Zu Hause ist er normal.
Dem gegenüber stehen aber die inzwischen, seit Jahrzehnten, aufgeweichten Sphären des Privaten und Öffentlichen. Das grobe Lustspiel, der Schlagabtausch unter Rollengesinnten hat sich auf SM-Parties verzogen und findet in Szenebars allenfalls noch subtil statt und dann auch nur wenn man sich vorher darauf geeinigt hat, möglicherweise auch auf den Kontrollverlust. Das Sexuelle ist nicht komplett aus der Öffentlichkeit verschwunden, aber die Spielregeln sind neu.

3
Die dritte Antwort widmet sich noch einmal dem Rollenspiel, wobei Herr Pfaller den Schwerpunkt auf eine halb untergegangene Rolle setzt – die Dame. Dabei liegt die Wahrheit, wie so oft, im Gegenüber. Bereits in den ersten Sekunden spüre ich, wie mein Gegenüber behandelt werden möchte. Beide Agierenden greifen dazu auf ihren Erfahrungsschatz zurück und achten darauf, wie weit der andere, die andere an diesem Abend, diesem Nachmittag körperbezogen sprechen möchte. Eine Frage, ob man in diesem Alter noch weiterhin eine Führungsrolle spielen möchte, ist grundsätzlich keine Aufforderung, seine Männlichkeit zu beweisen. So leid es mir tut. Aber das sind die Spielregeln.

4
Die Frage nach der Wehrhaftigkeit in der nächsten Antwort würde ich gar viel simpler beantworten. Unter Umständen hätte eine andere Frau mit einer Ohrfeige reagiert und der Stern hätte sich hinter die Dame gestellt, so wie er sich jetzt hinter die schriftliche und nachträgliche Ohrfeige gestellt hat. Unter Umständen.

5
Nun gibt es keine Benimmbücher mehr und ich wüsste daher auch nicht, wie sich die Rolle einer Dame komplett ausfüllen ließe, zumal in mir auch ein Punkmädchen, eine Hippiebraut, eine DDR-Frau, eine Studentin, eine Praktikantin, eine Assistentin, eine Kinderkrankenschwester, eine Radiojournalistin und zahlreiche andere Rollen und Rollenvorbilder wohnen. In der Rolle des Punkmädchens ließe sich eine Ohrfeige noch am besten mit meinem Über-Ich vereinen.

6
Natürlich beinhaltet die Rolle des Punkmädchens auch so kuriose Dinge, wie jemanden spontan zu küssen oder andere Dinge, die eine Dame niemals tun würde. Ich weiß nicht, was mit meinen Rollen los war, dass ich sehr, sehr häufig belästigt worden bin in meinem Leben, ob mal weniger naiv oder mehr. Trotzdem ist es passiert. Und Sie Herr Pfaller würden vermutlich jetzt sagen, wo kein Herr, da auch keine Dame. Ach, nein – würden Sie nicht. Das ist die Antwort, die mich sehr wütend gemacht hat. Das Gute ist, ich bin über den Ärger hinaus. Ich denke, mein inneres Punkmädchen hat mir da mehr geholfen, als meine innere Großmutter, die vieles einfach ausgehalten hat. Damen sprechen nicht darüber.

7
Die Frage der Selbstbehauptung in der siebenten Frage würde ich wieder unter das Vorzeichen des Aushandelns stellen. Da möchte ich auch nicht, dass mich die Polizei beschützt, das wäre meinem Selbstwertgefühl abträglich. Aber wenn ich jemanden bitte, die Tür bei einem Gespräch offen zu lassen – aus was für Gründen auch immer, so hätte jener dies zu respektieren.

8
Ihrer achten Antwort stimme ich zu, unter dem Vorbehalt des Aushandelns.

9
Mit Opernbällen und den 68ern kann ich wenig anfangen.

10
Ich froh darum, viele Rollenbilder in mir zu tragen, sie bei Bedarf anwenden zu können und manches Mal ist mir die Rolle der Dame sehr recht. Aber ich mag ihre Fallstricke nicht kennenlernen.

11
Zusammenfassend wäre noch zu sagen, dass ich es sehr unhöflich finde, dass die Gedanken streitbarer und kluger Frauen nicht weitergeführt worden sind, sondern stattdessen kurzerhand die Rechnung bezahlt und murmelnd im Gehen einwendet wurde, dass diese Frau gegen Mann und alt gegen jung Geschichten endlich aufhören sollen, man hätte jetzt wichtigeres zu tun.

Und ich, ich stehe gemeinsam mit den Zimmermädchen auf der Straße und halte Schilder hoch:

Ein wahrer Philosoph wäre doch dazu fähig, Anschlusspunkte zu finden, statt den Diskurs zu kappen und losgelöst davon weiterzureden, als wäre nichts passiert.

Die Ursprungsdebatte ist integrativer Bestandteil aller weiteren Debatten.

Man kann das Thema durchaus weiter besprechen, ohne sein ursprüngliches Anliegen kleinzureden.

Es ist doch gerade der Fall, dass durch #aufschrei Abhängigkeitsverhältnisse wieder diskutiert werden, was somit politisch ist.


Empört euch.